Gesellschaft erforschen – und verändern!
Die Lehrveranstaltung „Arbeitswelten“ bewegt sich im speziellen Feld des Zusammenwirkens von Wissenschaft und Gewerkschaft. Das ergibt sich zunächst schon durch die Kooperation zwischen den beteiligten Organisationen, Universität und Gewerkschaft. Die Grundlage für Kooperationen allgemein und so auch für diese ist ein gemeinsames Interesse, in diesem Fall insbesondere gemeinsame Erkenntnisinteressen, die durch je spezifische Beiträge der beiden Bereiche geformt werden. Das „Forschungsfeld Arbeitswelt“ bildet einen gemeinsamen Nenner, die Zugänge dazu sind als weitgehend unterschiedlich anzunehmen, je nachdem, ob Fragen und Erkenntnisinteressen primär von der wissenschaftlichen oder von der gewerkschaftlichen Seite aus beobachtet werden. Doch gerade darin liegt eine weitere Begründung des Kooperationsverhältnisses: aus Unterschieden bzw. unterschiedlichen Betrachtungsweisen oder Analysemethoden lässt sich lernen, und zwar „voneinander lernen“. Wie sehen also die unterschiedlichen Zugänge aus und wo treffen sich Wissenschaft und Gewerkschaft?
WISSENSCHAFT
Wenn Wissenschaft ganz allgemein als „die Erweiterung des Wissens durch Forschung“ (Wikipedia) beschrieben werden kann, so kann für den hier interessierenden Gegenstandsbereich der Arbeitswelt eingegrenzt werden, dass die Sozialwissenschaften ihr Forschungsinteresse allgemein auf die Gesellschaft richten. In den einzelnen Disziplinen dominieren dazu unterschiedliche Definitionen, Begründungen und Herangehensweisen.
„Gesellschaft erforschen“ ist ein gleichermaßen spannendes wie umfassendes Projekt. Ohne hier eingehend verschiedene (soziologische) Definitionen von Gesellschaft bemühen zu wollen, wird die Größe des Projektes genauer fassbar, wenn die Gesellschaft als alle sozialen Strukturen und Prozesse, die sich beobachten lassen, angenommen werden. Sich diesem „Allem“ erforschend zu widmen, erscheint mitunter aussichtslos. Nicht umsonst ist allerdings auch der Wissenschaftsbetrieb ein arbeitsteiliger Prozess mit Spezialisierungen von Forschungsfeldern. Wer sein Erkenntnisinteresse und seine Forschungsbemühungen dem „Forschungsfeld Arbeitswelt“ zuwendet, leistet Beiträge zu Erforschung der Gesellschaft insgesamt. Damit könnte man sich schon begnügen – und loslegen. Darüber hinaus kann aber auch noch gefragt werden, welchen besonderen Stellenwert gerade die Erforschung von Arbeit und Arbeitswelt einnimmt – und zwar sowohl allgemein als auch insbesondere in der Soziologie.
Fokus Arbeit und Arbeitswelt
„Arbeit“ in all ihren Ausprägungen zu beschreiben und (kritisch) zu erklären liegt unter anderem deshalb nahe, weil Arbeit uns nicht nur vielschichtig, sondern vor allem auch nahezu überall begegnet. Dass individuelle und kollektive Handlungen ständig, allgemein und grundlegend als Arbeit beobachtet werden können, legt es nahe der Arbeit und der Arbeitswelt einen besonderen wissenschaftlichen Fokus zu widmen.
„Die Aufmerksamkeit für den historischen Wandel der Arbeit legt es nahe, Arbeit zunächst ganz allgemein als jene Tätigkeit zu markieren, die unternommen wird, wenn ein bestimmter Zustand oder eine Gegebenheit in der Welt als unbefriedigend oder mangelhaft erlebt wird, oder wenn sich Ressourcen, die uns wichtig erscheinen, als knapp erweisen. Wir arbeiten, wenn wir Hunger haben, um über Nahrungsmittel zu verfügen. Wenn wir Kälte empfinden, arbeiten wir, um Kleider oder Behausungen herzustellen. Wenn wir mangelnde Mobilität oder zu große Entfernungen als Problem erleben, arbeiten wir, um Fortbewegungsmittel herzustellen oder zu betreiben. Wenn unser Wissen nicht reicht, arbeiten wir an Bildung und Wissenschaft. Und wenn wir unser Dasein langweilig und unbefriedigend finden, so arbeiten wir an Möglichkeiten, uns zu unterhalten, unsere Freizeit erfüllend zu gestalten, oder allgemein unserem Leben Sinn zu geben. Wir arbeiten, so ließe sich allgemein sagen, um unsere Welt und unser Dasein so zu gestalten, wie wir es für sinnvoll erachten. Wir gestalten arbeitend unsere Welt.“ (Manfred Füllsack: Arbeit. Wien 2009: Facultas, Seite 8.)
Doch nicht nur diese allgemeine Gegenwärtigkeit von Arbeit in ihren unterschiedlichsten Formen macht die Erforschung des Arbeitens und der Arbeitswelt so bedeutend. Mit ihrer umfassenden Ausprägung lässt sich den Verhältnissen der Arbeit auch ein besonderer gesellschaftlicher Stellenwert zuschreiben, sodass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Arbeit und Arbeitswelt auch wichtige Erkenntnisse über andere gesellschaftliche Bereiche bzw. die Gesellschaft insgesamt erwarten lässt. Diesen bestimmenden gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit hat nicht zuletzt Karl Marx entscheidend geprägt.
„Der Staat, die Familie, die bürgerliche Gesellschaft existieren offensichtlich nur auf der Grundlage handelnder und arbeitender Individuen. Damit setzte er […] der Hegelschen idealistischen Auffassung eine materialistische entgegen.“ (Anton Amann: Soziologie. Theorien. Geschichte. Denkweisen. Wien 1996: Böhlau, Seite 324.)
Daraus folgt:
„Der Ausgangspunkt gesellschaftlicher Erkenntnis kann nicht das Bewußtsein der Individuen von ihren gesellschaftlichen Verhältnissen sein, sondern nur diese Verhältnisse selbst, ‚die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen‘. Die Grundlage, auf der die Verhältnisse sich entwickeln, ist die gesellschaftliche Arbeit, die materielle Produktion. Um das Überleben zu gewährleisten, müssen Menschen materielle Güter haben, sie müssen diese produzieren, sie müssen arbeiten.“ (Ebenda, Seite 325.)
Mit einer solchen Bestimmung der bestehenden Verhältnisse als primäres wissenschaftliches Erkenntnisinteresse ist auch ein grundlegender soziologischer Forschungszugang leicht kompatibel: „Das Bestehende“ erfassen und analysieren, das heißt: ins Feld gehen, Daten erheben, auswerten und erklärend interpretieren. Ganz in diesem Sinne lässt sich auch das Kernelement der Lehrveranstaltung „Arbeitswelten“ verstehen, das Erkunden bzw. Erforschen betrieblicher Arbeitswelten durch Betriebsbesuche.
Marx bestimmt aber nicht nur die gesellschaftlichen (Arbeits-)Verhältnisse als für die wissenschaftliche Erforschung maßgeblichen Erkenntnisgegenstand, sondern geht noch einen Schritt weiter. Für ihn ist es nicht ausreichend, ausgehend von der Analyse der Verhältnisse das Bestehende anders zu interpretieren. (Vgl. ebenda, Seite 324.) In seiner berühmt gewordenen 11. These ad Feuerbach formuliert er fordernd:
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern.“
GEWERKSCHAFT
In diesem Punkt der Verknüpfung von kritischer Analyse der bestehenden Verhältnisse und der Forderung nach Veränderung dieser Verhältnisse verbinden sich punktgenau wissenschaftliche und gewerkschaftliche Interessen. Gewerkschaften sind als Bewegungen entstanden, in denen sie ArbeiterInnen ihre Interessen organisiert und zum Ausdruck gebracht haben. Diese Interessen waren und sind das Ergebnis der von erfahrenen und beobachteten von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie Missständen in der Arbeitswelt, die sich auch auf alle anderen Lebensbereiche von ArbeitnehmerInnen auswirken. Deshalb werden sie auch verknüpft mit Forderungen, in denen ausgehend von der Analyse und Kritik von Missständen, der Veränderungs- und Gestaltungswille der ArbeitnehmerInnen zum Ausdruck kommt.
Dabei war das Interesse der Gewerkschaften an wissenschaftlich fundierten Analysen, die die Entwicklungen in der Gesellschaft zu beschreiben und erklären versuchen, als Basis für die Gestaltung der Arbeitswelt im Sinne der ArbeitnehmerInnen seit jeher hoch. Für eine wissenschaftlich informierte Gewerkschaftsarbeit liegen je nach vorherrschendem „wissenschaftlichen Paradigma“ teilweise auch selektive disziplinäre Bezugnahmen nahe.
„Was für den Arbeitswissenschafter, den Soziologen, den Psychologen, die Gewerkschaft einen Weg zur Humanisierung aufzeigt, das ist für den Betriebsorganisator eine Rationalisierungslücke, die er schleunigst auszufüllen bemüht ist … Da wollen ein paar clevere Betriebsberater in der Bundesrepublik Deutschland herausgefunden haben, daß der Angestellte nur zu 50 bis 60 % seiner Kapazität ausgelastet sei, und sie haben sch das Ziel gesetzt – falls sie Unternehmer finden, die das entsprechend honorieren – diese Auslastung auf 80 % anzuheben. Als Mittel dazu bieten sie Leistungskontrollen, Rationalisieirung und zusätzliche Arbeistleistung. Das letzte bißchen individueller Spielraum soll aus der Arbeit herausgestrichen werden …“ (Auszug aus einer Rede von Alfred Dallinger vor dem arbeitswissenschaftlichen Institut der TU Wien, erschienen in arbeit & wirtschaft 11/78, zitiert in: Astrid Fadler: Der Zukunft verpflichtet. Im Gedenken an den Visionär Alfred Dallinger. Wien 2014: ÖGB Verlag, Seite 65.)
Hier wird deutlich, dass wissenschaftliche Untersuchungen und ihre Ergebnisse je nach Anwendungs- und Gestaltungsinteresse unterschiedlich eingesetzt werden können. Wo immer es um die Gestaltung von Rahmenbedingungen für das Arbeiten – und in weiterer Folge für die Möglichkeiten, das Leben allgemein zu gestalten – geht, handelt es sich aus gewerkschaftlicher Sicht um interessengeleitete und damit politische Verhältnisse. Die Funktion der Gewerkschaft besteht in der von ArbeitnehmerInneninteressen getragenen Mittbestimmung der Arbeitswelt, also darin, die Verhältnisse des Arbeitens und der Arbeitswelt mit zu gestalten. Das umfasst letztlich – und damit schließt sich der Kreis zum gesellschaftlichen Stellenwert des Themas bzw. des Forschungsgegenstandes – nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche. Für die Arbeitswelt ist auch das Thema den „Nicht-Arbeitens“, der Arbeitslosigkeit, von entscheidender Bedeutung, genauso wie Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung, wirtschaftlicher Logiken und ihrer politischen Gestaltung. Gleichzeitig sind damit auch Fragen der Volkswirtschaft und sozialen Absicherung sowie folglich auch allgemein der regulierenden Rolle des Staates für die Gestaltung aller Bereiche wie Gesundheit, Bildung, Sicherheit usw. betroffen.
Interpretieren und verändern
„Zum einen finden Menschen, als je einzeln geborene Individuen, bereits durch gesellschaftliche Arbeit hervorgebrachte Verhältnisse vor: Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Arbeitsteilung, Reichtum und Armut, Familien- und Organisationsformen, Ideen, Wissen etc. Die Gestaltung der Lebensverhältnisse ist daher für den Menschen nie beliebig, sondern hat immer an historisch-konkreten Bedingungen anzuknüpfen. In diesem Sinne zumindest sind die Verhältnisse ‚von ihrem Willen unabhängige‘. Da sie aber gemacht sind, müssen sie zum anderen auch veränderbar und gestaltbar sind; tatsächlich sind sie es auch, wie die Geschichte der Menschen beweist – allerdings: nicht in individueller Anstrengung, sondern in kollektiver Aktion, im Rahmen gesellschaftlicher Arbeit, in der die Menschen ihre eigene Geschichte machen.“ (Anton Amann, ebenda, Seite 325.)
Ausgehend von diesem politischen Mitbestimmungs- und Gestaltungsverständnis agiert die Gewerkschaft – in aller Kürze dargestellt – auf den drei Ebenen Betrieb, Branche und Gesellschaft (Politik). Die demokratisch verfassten Organe für dieses Agieren, das in der Praxis der vielschichtigen Prozesse auf das Verständnis des „Interpretieren und Verändern“ hinausläuft, sind der Betriebsrat, die Wirtschaftsbereiche (Kollektivvertrag) und die Organisationen der Gewerkschaft (Österreichischer Gewerkschaftsbund) und Arbeiterkammer.